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  1998 Fluchtspuren, Ostbosnien -Steyr

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  Aus dem Buch "Fluchtspuren" von Mag. Waltraud und Mag. Georg Neuhauser, 1998
   Flucht Spur im Gold - Steyr  Steyr, Station 03 - Sada Barlov,
   
  "Ich weiß nicht, warum der Haß so groß war"
   
  Kindheit im Vielvölkerstaat
   
 

Ich komme aus einem kleinen Dorf in Ostbosnien, ungefähr zehn Kilometer von der Stadt Foća entfernt. Ich bin 1969 dort geboren. Es war zwar ein rein muslimisches Dorf, in der Umgebung wohnten aber auch Serben. Mein Vater arbeitete in einer Holzfirma, die Mama war zu Hause. Wir hatten einen kleinen Bauernhof mit Schafen, Kühen und Hühnern, dazu einen großen Garten, wo wir Gemüse anbauten.

Die ganze Familie war zusammen, wir waren glücklich und zufrieden. Ich habe noch eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder. Ich lebte 25 Jahre in diesem Dorf, und ich kann mich an keine große Traurigkeit erinnern. Mit der Schule hatten wir keine Probleme. Meine Schwester ist nach acht Jahren Schule zu einem Onkel in die Herzegowina gegangen, wo sie drei Jahre im Gymnasium war. Auch ich wollte weiter in die Schule gehen, aber Papa war dagegen, er meinte, wir könnten es uns nicht leisten. Aber es fehlte uns an nichts, weil wir das Lebensnotwendige selber hergestellt haben.

Den Sommer haben wir Kinder mit der Mutter immer auf einer Alm verbracht, zu Fuß – steil bergauf - war sie vom Elternhaus in rund 45 Minuten erreichbar. Wir hatten dort eine Hütte. Sie war ganz einfach eingerichtet, auf einer Steinplatte wurde gekocht und auch Brot gebacken. Auf dieser Alm haben wir Käse und Butter für unseren Vorrat erzeugt. Natürlich mußten auch wir Kinder mithelfen. Insgesamt hatten wir vielleicht fünfzehn Schafe und drei Kühe, da gab es immer viel zu tun.

In der Volksschule gab es serbische und muslimische Kinder. Natürlich hatten wir auch serbische Freunde, wir sind ja acht Jahre zusammen in die Schule gegangen. Wir haben manchmal gestritten, uns aber am nächsten Tag wieder versöhnt. Daß so etwas Schreckliches passieren könnte, habe ich nie gedacht.

Nur meine Oma hat oft vom Krieg erzählt, mein Vater, Jahrgang 1941, war dazu noch zu jung. Sie hat uns immer davor gewarnt, Brot wegzuwerfen. Sie sagte: ”Ihr wißt nicht, was Hunger ist.” Aber wir Kinder haben das nie verstanden. Der Opa hat einmal einen ganzen Winter in einer Höhle versteckt gelebt, weil er Angst vor den Tschetniks hatte. Sein ältester Sohn, mein Onkel, war nämlich bei den Partisanen. Die Oma war allein mit ihren acht Kindern zu Hause. Da ist einmal ein Tschetnik ins Haus gekommen und wollte alle mit einem Messer töten. Doch der Nachbar, der Bruder des Tschetniks, hat ihn gewarnt: ”Tu es nicht, sonst werde ich dich töten!” Er hat es dann nicht getan.

Sicher sind nicht alle Serben schlecht. In der Volksschule hatten wir zwei serbische Lehrer. Der eine, mein Lehrer, hat die Kinder geschlagen, der andere, zu dem meine Geschwister am Nachmittag gingen, war ganz anders, er war freundlich und hat gut unterrichtet. Wenn man für meinen Lehrer etwas getan hat, z.B. seine Schweine füttern, oder wenn der Papa ihm ein Bier bezahlt hat, hat es gute Noten gegeben. Er war total ungerecht und ein starker Nationalist. Aber unsere Eltern wollten keinen Streit mit ihm, auch nicht, als ich einmal mit blutender Nase und einem blutverschmierten Buch nach Hause gekommen bin.

Tito haben wir alle geliebt. In der Schule haben wir nur Positives über ihn gehört. Als er gestorben ist, hat Papa geweint. Schon in meiner Kindheit hieß es, daß es Krieg geben werde, wenn Tito einmal stirbt. Alle hatten Angst davor, warum, weiß ich erst jetzt. Damals wurde gesagt: ”Die Tschetniks werden wiederkommen”. Die alten Leute wußten, wovon sie sprachen. Meine Mama hat eine Tante gehabt, die im 2. Weltkrieg viel mitgemacht hat. Sie hat die Kinder und den Mann verloren, ich weiß nicht, ob sie nicht auch vergewaltigt wurde. Die hat jedenfalls die Serben nie gegrüßt.

Auch die Lehrer in der Hauptschule waren in erster Linie Serben, die Kinder gemischt. Ich habe sehr gut gelernt, aber vor allem mein Klassenvorstand hat mir immer schlechtere Noten gegeben. Ich wußte nicht, warum. Er unterrichtete Russisch, und ich haßte diese Sprache. Ich glaube, ich kann mich nur mehr an zwei, drei russische Worte erinnern. Viele Lehrer waren eben nationalistisch eingestellt, aber damals hatte ich keine Ahnung davon. Ich verstand den Unterschied zwischen Serben und Moslems nicht. Ich wußte, daß die Serben Schweine hatten, wir aber nicht, weil wir kein Schweinefleisch essen durften. Auch da war mir nicht klar, warum. Ich dachte, wir wären alle gleich. Ich habe einmal mit einem serbischen Kind geschimpft und dabei unseren Gott ”Allah” erwähnt. Das Mädchen hat gefragt: ”Was hast du gesagt?” Da wurde mir erst klar, daß sie nicht so sind wie wir.

Die serbischen Nachbarn waren bei uns eingeladen, und wir sind zu ihnen gegangen. Das war normal. Ich war als Kind fast öfter bei der serbischen Nachbarin als zu Hause. Ich habe sie so geliebt und habe oft dort geschlafen. Die Frau war für mich wie eine Mutter. Ich erinnere mich, wie gern ich ihr frisch gebackenes Brot gegessen habe. Ihr Sohn hat mir später geholfen, zu flüchten. Als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe, Anfang Juli 1992, hat sie gemeint: ”Du weißt, du kannst immer kommen, so wie meine Tochter.” Wir weinten beim Abschied, aber sie hat mir nicht gesagt, daß die Tschetniks in zwei Tagen kommen werden. Ich glaube, sie hat es gewußt. An diesem Tag sind nämlich alle Serben aus ihren Häusern verschwunden.

Die Religion hatte für uns, mit Ausnahme meiner Oma, keine Bedeutung. Es gab auch keine Moschee im Dorf. Mein Vater war Kommunist. Wenn er etwas getrunken hatte, konnte er sehr böse werden, sonst war er gut zu uns. Die meisten Männer waren so, jeden Tag nach der Arbeit trafen sie sich, und dann kamen sie betrunken nach Hause. Ich erinnere mich, daß mein Vater mich zwei- oder dreimal geschlagen hat, als ich nicht lernen wollte. Früher hat er in diesem Zustand oft meine Mama beschimpft, sie hat dann geweint und wir auch. Für uns Kinder war es manchmal wirklich schlimm. Die Mama war ja eine so gute Frau. Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren hat sie ihn geheiratet, das war damals so üblich. Es war nicht leicht für sie, trotzdem war sie irgendwie zufrieden. Natürlich mußten wir Kinder viel arbeiten, vor allem der Mama helfen, weil der Papa nie da war. Wir holten Brennholz aus dem Wald, und es gab noch viele andere Aufgaben.

Die Spannung steigt

Ich war in der 6. oder 7.Klasse, als Tito gestorben ist. Wir waren alle sehr traurig, ich erinnere mich noch genau, wie wir vor seinem Bild gestanden sind. Die Leute waren irgendwie eigenartig ruhig und hatten Angst. Alle sagten: „Jetzt kommt Krieg!“ Da habe ich gedacht, die Deutschen kämen wieder oder die Tschetniks - ich hatte damals von diesen Dingen absolut keine Ahnung.

Nach der Schule war ich zwei oder drei Jahre zu Hause. Gerne hätte ich einen Beruf erlernt, am liebsten Schneiderin, aber mein jüngerer Bruder machte eine Ausbildung zum Piloten, und Papa mußte ihm das Internat zahlen. Außerdem haben wir damals das Haus vergrößert, da war für mich kein Geld übrig. Später habe ich Papa deshalb Vorwürfe gemacht. Wenn man keine Schulbildung hat, ist man immer unten, und jeder kann dir anschaffen, was du tun sollst. Mit achtzehn Jahren bin ich als Putzfrau in diese große Firma gegangen, in der auch Papa gearbeitet hat. Wie überall üblich hatte die Firma zwei Chefs, einen Serben und einen Moslem. Papa war Schichtarbeiter, später hat er es bis zum Vorarbeiter gebracht. Ich war nicht besonders zufrieden, trotzdem war ich sieben Jahre dort, bis zum Krieg. Damals habe ich natürlich zu Hause gewohnt, bei uns kann man nämlich nicht mit achtzehn Jahren weggehen: Erst wenn man heiratet, geht man von zu Hause weg.

An Freitagen bin ich manchmal nach Foca einkaufen gefahren. Foca war eine schöne kleine Stadt. Es gab eine Altstadt mit einem starken orientalischen Einschlag. Von den zwölf Moscheen der Stadt - eine war fast fünfhundert Jahre alt - steht heute keine mehr, sie wurden alle im Krieg zerstört. An ihrer Stelle gibt es heute Parkplätze. Ich weiß nicht, warum der Haß so groß war. Ich wußte früher gar nicht, was Haß ist, aber heute weiß ich: Ich muß hassen, weil ich so schrecklichen Dinge erlebt habe.

Ich hatte viele Freunde in der Firma, im Dorf, auch in Foća. Wir haben uns immer am Abend getroffen, oft haben wir ein Feuer gemacht und Musik gehört. Jeden Tag war Musik im Dorf, bei Festen wurde viel gesungen und musiziert, besonders bei Hochzeiten. Als mein Bruder zum Militär ging, haben wir zwei Tage lang gefeiert. Es wurde ein Schaf gegrillt, und alle kamen, natürlich auch die serbischen Nachbarn.

1990 ist der große Bruder nach Österreich gegangen, nach Steyr. Sein Schwiegervater hat ihn dorthin vermittelt. Er hat uns manchmal besucht. Jetzt arbeitet er schon über zwanzig Jahre in Österreich.

Die wirtschaftliche Lage in Jugoslawien verschlechterte sich, zwei Jahre lang bekamen wir Gutscheine statt unserer Löhne. Es gab zwei oder drei Geschäfte, wo man Lebensmittel kaufen konnte, aber man mußte immer aufpassen, wenn etwas kam, und dann schnell zuschlagen. Von Steyr hatte ich damals die Vorstellung einer wunderschönen Stadt, in der alle Bewohner unheimlich reich sein mußten. Wir waren sehr beeindruckt, wenn Leute, die in Österreich gearbeitet haben, plötzlich mit einem schönen großen Auto aufgetaucht sind. Eines Tages kam der Schwiegervater meines Bruders mit einem großen Lancia  und brachte eine neue Waschmaschine, die der Bruder für uns in Steyr gekauft hatte. Das war schon eine tolle Sache, aber ich habe meinem Bruder nie gebeten, mich mitzunehmen. Ich war zufrieden mit meiner Arbeit und mit dem, was wir hier hatten.

Damals habe ich auch einen Freund gehabt. Er mußte zum Militär und war in Sarajevo stationiert. Trotzdem hat er mich oft besucht, wir haben uns auch regelmäßig geschrieben. Dann hat er sich entschieden, nach Libyen zu gehen. Das hat mich sehr gekränkt, und als wir uns verabschiedeten, habe ich eigentlich nur mit ihm geschimpft. Im nachhinein hat mir das sehr leid getan. Kurz vor dem Krieg ist er dann zurückgekommen. Wir wollten heiraten, aber der Krieg hat alles zunichte gemacht. Nach dem Krieg habe ich ihn dann überall gesucht und schließlich auch gefunden. Aber es funktioniert nicht mehr, er trinkt und ist so anders geworden - durch diesen verdammten Krieg. Es war ein Schock für mich, als ich ihn das erste Mal wiedergesehen habe. Ich empfand nur mehr Abscheu und Ekel. Den Alkohol hab ich schon bei meinem Vater kennen und hassen gelernt, ich wollte das nicht noch einmal erleben.

In der Firma hat man damals gespürt, daß sich die Situation zwischen Moslems und Serben zuspitzt. Es wurden neue Parteien gegründet, es gab Provokationen und Demonstrationen. Im Dorf selbst war es ruhig. Die wichtigsten Informationsquellen waren damals das Radio und die Gespräche mit meinen Kollegen in der Firma. Ich habe Angst gehabt, aber nicht wirklich geglaubt, daß es einen Krieg geben könnte.

An einem Montag im April 1992, der erste Arbeitstag nach einem hohen moslemischen Feiertag, kam ich in die Firma und stellte fest, daß – bis auf den Chef - alle serbischen Kollegen verschwunden waren. Wir tranken gerade Kaffee, als unser Chef zur Tür hereinkam und sagte: ”Wir machen Schluß für heute”. Irgend etwas mußte passiert sein.

Tödliche Lähmung

Ich fuhr mit meiner Cousine und einem Arbeitskollegen aus einem Nachbardorf nach Foća. Dort war alles in Aufruhr. Viele Autos waren unterwegs, und die Straßen waren voller Menschen. Die Serben waren offensichtlich dabei, die Stadt zu verlassen, und die Moslems demonstrierten: ”Wir wollen Frieden und nicht Krieg”. Ein Kollege meinte: ”Jetzt ist es soweit, jetzt wird es ernst”. Als ich zu Hause ankam, fragte meine Mutter ganz aufgeregt: ”Wo warst du? Was ist mit dir passiert? Weißt du denn nicht, was los ist? Der Krieg ist ausgebrochen!” Ich konnte das alles einfach nicht glauben.

Am nächsten Tag wollte ich ins untere Dorf einkaufen gehen, da kam mir mein Cousin entgegen: ”Geh weg! Ganz Foca steht unter Feuer! Die Tschetniks beschießen die Stadt! Geh sofort zurück!" Überall, auch im Dorf, standen plötzlich uniformierte Soldaten herum. Nein, es war kein fremdes Militär, es waren unsere serbischen Nachbarn! Es war einfach nicht zu begreifen, sie haben sich schnell die Uniformen angezogen und die Kontrolle übernommen!

Ab diesem Zeitpunkt hatten wir große Angst. Wir trauten uns nicht mehr, die Nächte in unseren Häusern zu verbringen, also schliefen wir im Wald. Wir hatten uns ungefähr zwei Kilometer vom Dorf entfernt eine Art Versteck gebaut, das nur die Frauen am Tag verließen, um Essen zu kochen und die Tiere zu füttern. Wir hatten damals noch eine Kuh und einen Stier im Stall, auch der Garten mußte betreut werden. Der war schön wie nie zuvor, alles ist so prächtig gewachsen! Im Dorf selbst gab es noch keine Schießereien, aber aus der Entfernung hörten wir oft Schüsse und sahen brennende Häuser. Das Leben in diesem Versteck, in dem wir fast drei Monate – bis zum Juli1992 – verbrachten, war manchmal fast nicht mehr zu ertragen, besonders dann, wenn es kalt war. Und es war in diesem Jahr oft entsetzlich kalt, es gab viel Regen und sogar noch Schnee. Meine Cousine hat damals ihr Kind bekommen, auch sie hat die ganze Zeit mit uns im Wald gelebt.

Natürlich haben wir oft über eine Flucht nachgedacht. Weil unser Dorf von den Tschetniks so gut wie eingekreist war, konnten wir nur über die Berge entkommen. Ich wollte unbedingt mit meinem Bruder weg, ich wußte, sie würden ihn sonst umbringen. Viele wollten aber wegen der Häuser und der Tiere nicht weggehen. Wir konnten uns einfach nicht einigen. Für mich kam eine gemeinsame Flucht nicht in Frage, wir waren ja insgesamt ungefähr sechzig Leute, und es waren alte Leute und Kinder darunter, die nicht schnell laufen konnten. Ich hatte Angst und dachte, als Gruppe würden sie uns sicher erwischen. Dazu kam noch etwas anderes: Die serbischen Milizen, die jetzt unser Dorf kontrollierten, hatten uns gesagt, wenn wir alle unsere Waffen abgeben, werden wir keine Probleme haben. Unsere Männer hatten Jagdgewehre, außerdem waren zwei oder drei von ihnen früher bei der Polizei gewesen und besaßen daher Pistolen. Eines Tages haben sie aber wirklich alle Waffen abgegeben in der Hoffnung, daß alles wieder gut wird. So waren es vor allem die Männer, die bleiben wollten. Es ging sogar so weit, daß einer gemeint hat, wenn ich gehe, dann würde er das den Tschetniks melden. Er hatte große Angst, daß wir auf der Flucht verhungern würden, deshalb hat er uns so unter Druck gesetzt. Tragischerweise war er später der erste, der mit seinen beiden Söhnen von den Tschetniks getötet wurde.

Heute weiß ich, daß es damals nachts sicher möglich gewesen wäre, zu flüchten. Die Stellungen unserer bosnischen Soldaten waren nur einige Stunden von uns entfernt.

Anstatt zu fliehen, gruben unsere Männer Höhlen für noch bessere Verstecke. Aber durch das Radio haben wir erfahren, was los war. Eigentlich war uns allen ganz klar, daß die Tschetniks kommen werden, und so haben wir nichts Besseres zu tun gehabt, als auf sie zu warten.

Das Grauen beginnt

Es war am 3. Juli 1992, um halb 7 Uhr früh, da haben uns plötzlich Schüsse in nächster Nähe aus dem Schlaf gerissen. Sofort habe ich gedacht: Jetzt sind sie da. Ich springe auf, nehme meine Schuhe und laufe so schnell ich kann den Berg hinauf. Mit mir mein Bruder, meine Cousine, mein Papa und meine Mama. Der Hang ist sehr steil, wir laufen um unser Leben. Die Kugeln pfeifen uns um die Ohren, die Tschetniks feuern mit ihren Maschinengewehren wahllos hinter uns her. Der Nebel hindert sie am genauen Zielen. Wahrscheinlich sind es die Sachen, die die Frauen im Laufen fallenlassen und unsere Spuren, die ihnen den Weg weisen. Ich bin schneller als die anderen, aber plötzlich kann ich nicht mehr laufen. Mein Gott, ich habe solche Angst, daß sie meine Füße kaputtschießen! Ich setze mich einfach hin und warte. Von unten kommen die anderen Frauen mit ihren Kindern. Mein Papa läuft an mir vorbei, meine Mama ist noch hinten, und weiter unten wartet mein Bruder auf Oma und Opa. Sie können nicht mehr so recht mithalten, trotzdem will er die beiden nicht allein lassen. Da kommt plötzlich eine Frau herauf, schreiend und völlig verzweifelt. Sie hat gesehen, wie sie ihren Mann erschossen haben. Zur gleichen Zeit hat es meine Mama bis zu mir herauf geschafft, aber sie sagt: ”Ich kann nicht mehr. Ich bin so kaputt. Ich kann nicht mehr.” Ich sage zu ihr: ”Leg dich nieder und warte, bis es wieder ruhig ist.” Da sieht sie meinen Bruder, sie steht auf und will ihm etwas sagen. Ein Projektil schlägt direkt in den Baum ein, hinter dem ich stehe, eine Frau reißt mich zu Boden. In diesem Augenblick sehe ich, wie meine Mutter, von einem Schuß in den Kopf getroffen, rücklings zu Boden stürzt. Ihre Haare und ihr Gesicht sind voller Blut. Ich will sie nehmen und mit ihr weiter laufen, aber die Frau neben mir schreit: ”Nein, tu das nicht, sonst bist du auch tot!” So bin ich bei meiner Mama geblieben. Die Szenen, die sich um uns herum abspielten, waren fürchterlich: Schwerverletzte lagen auf dem Boden, Kinder, deren Mütter getroffen waren, weinten, es war das totale Chaos.

Da hat ein Mann aus unserer Gruppe zu schreien begonnen: ”Bitte, schießt nicht mehr! Wir warten, egal was passiert, wir warten. Alle sind tot, auch Kinder sind dabei.” Aber die Tschetniks, die plötzlich auftauchten, haben nur geflucht und uns beschimpft. Zum erstenmal habe ich gesehen, wie sie aussahen: fünf oder sechs haßerfüllte Typen, voll bepackt mit Munition, Kalaschnikows und Handgranaten. Sofort haben sie begonnen, die Männer zu schlagen und zu mißhandeln. Viele waren verletzt, mein Bruder hatte einen Bauchdurchschuß und meine Oma ein Loch in ihrer Hand. Auch uns Frauen haben sie geschlagen und fürchterlich beschimpft.

Ich habe sie alle gekannt, es waren serbische Männer aus den umliegenden Dörfern. Der eine war zum Beispiel ein Kollege meines Bruders, mit dem er in die Schule gegangen ist. Sie haben geschrien: ”Wo ist denn euer Itzetbegović? Warum hilft er euch jetzt nicht?” Dann trieben sie uns hinunter auf eine Waldlichtung, dabei sangen sie ihre typischen Tschetnik-Lieder. Unten angekommen, mußten wir uns alle der Reihe nach aufstellen, links die Frauen und Kinder, rechts, ein Stück weiter weg, die Männer. Insgesamt waren es sieben Männer - wir haben sie damals das letzte Mal gesehen. Einer von ihnen war mein Bruder. Eigentlich wollte ich mit ihm reden, wollte ihn fragen wie es ihm geht, aber ich hatte solche Angst, ich habe mich nicht getraut, ihn anzusprechen. Ich habe so viel Zeit mit ihm verbracht, und wir haben uns immer so gut verstanden. Ihn habe ich wirklich geliebt. Der Gedanke, daß ich nicht mehr mit ihm reden konnte, verfolgt mich noch heute.

Wir Frauen und Kinder mußten weitergehen, die Männer blieben dort. Ich habe mich nur kurz umgedreht, aber nichts mehr gesagt. Auf dem Weg hat mich ein Tschetnik aus irgendeinem nichtigen Grund plötzlich an den Haaren gezogen, brutal zu Boden gerissen und mit den Füßen getreten. Immer wieder haben sie einen Vorwand gesucht, uns zu schlagen. Trotzdem habe ich mir von Anfang an gesagt: Du wirst nicht sterben. Ich weiß auch nicht, was da in meinem Kopf vorging.

Die Tschetniks haben uns durch unser Dorf getrieben und ich sah, daß alle Häuser abgebrannt und zerstört waren. Plötzlich hörten wir eine Maschinengewehrsalve und ich wußte sofort, jetzt haben sie unsere Männer umgebracht. Ich hatte ja schon gehört, was in anderen Dörfern passiert war. In einem Dorf wurden alle Bewohner umgebracht. In erster Linie ging es ihnen darum, die Männer zu beseitigen

Wir wurden in ein Motel in der Nähe unseres Dorfes gebracht, das man früher als Kinderferienheim verwendet hatte. Dort wimmelte es nur so von schwer bewaffneten Tschetniks aus den umliegenden Dörfern, aber auch aus Serbien und Montenegro.

In der Hölle der Barbaren

Einer von ihnen kam zu mir und sagte: ”Du kommst mit.” Wir gingen in einen Raum , wo drei Männer saßen, die ich alle kannte. Der eine sagte: ”Wenn du alles sagst, wird dir nichts passieren, aber wenn du lügst, werden wir dich alle vergewaltigen.” Dann habe ich erzählen müssen, wer aller im Dorf wohnte, von den Kindern bis zu den Männern. Er hat alles aufgeschrieben. Ich habe alle aufgezählt, aber meinen Vater habe ich einfach vergessen. Da hat er mich gefragt: ”Wo ist dein Vater?” Ich habe gesagt: ”Ich weiß nicht, ich glaube, er ist tot.” Dann wurde ich in einen anderen Raum gebracht, wo viele Tschetniks waren. Ein etwa Fünfzigjähriger kam auf mich zu und sagte, er werde jetzt mit mir schlafen. Aber ich sah genau, wie viele noch darauf warteten. Ich wollte mich wehren, doch ich war wie gelähmt. Und dann habe ich gesagt: ”Tun Sie, was Sie wollen.” Ich habe nur bis zum zehnten mitgezählt. Ich konnte nicht mehr, ich war ganz kaputt. Von nebenan habe ich das Wimmern meines Onkels gehört. Sie haben ihn geschlagen. Plötzlich hörte ich einen Schuß. Später habe ich erfahren, daß sie ihn in die Drina geworfen haben, die dort ganz in der Nähe vorbeifließt.

Mir war fürchterlich kalt. Ich wollte mich anziehen, aber ich durfte nicht. Ich wollte auf die Toilette gehen, sie erlaubten es nicht. Vor der Tür saßen drei Tschetniks in Zivil. Nachdem sie Wasser auf mich geschüttet hatten, sagte einer von ihnen: ”Zieh dich an und geh hinaus. Draußen wartet der Bus auf dich.” Ich glaubte es nicht, ich dachte: Die sind mit mir fertig, jetzt erschießen sie mich und werfen mich in den Fluß. Ich konnte einfach nicht weinen, der Schock war zu groß. Ich konnte auch nicht gehen, zwei Männer mußten mich stützen. Aber da war wirklich ein Bus. Er war voller Männer, einige waren gerade dabei, ein Mädchen zu vergewaltigen. Vor dem Bus weinte die Mutter des Mädchens, sie bat einen Tschetnik, ihr doch ihr Kind zurückgeben, es sei erst vierzehn Jahre alt. Dann sind andere Frauen und Kinder gekommen, darunter auch meine Oma, und wir sind alle zusammen nach Foca gefahren. Sie brachten uns zur Polizeistation. Wir warteten lange im Bus, sie wußten nicht, was sie mit uns anfangen sollten. Bis zu diesem Zeitpunkt erlebte ich alles wie einen bösen Traum, ich war vor Angst wie gelähmt und konnte nicht reagieren. Auf einmal fühlte ich mich so schwer, ich konnte nur noch weinen. Ich hatte Mamas Bild vor Augen, und mir wurde plötzlich bewußt, was alles passiert war.

Sie brachten uns in eine Schule, in einen Raum mit Matratzen und Decken. Ich war so fertig, ich habe sicher tage- und nächtelang nur geweint. Jeden Abend kamen die Tschetniks und holten uns, die jungen Frauen und Mädchen. Sie sagten etwas von Wohnung putzen oder so, aber jedes Mal wartete eine Gruppe Tschetniks auf uns, um uns zu vergewaltigen. Wir blieben dort zwölf Tage, aber ich glaube, ich habe nur zwei Nächte wirklich geschlafen. Einmal mußten wir vor den laufenden Kameras einer serbischen Fernsehstation sagen, wie schön es hier sei, daß wir dreimal am Tag zu essen bekämen und wie gut wir untergebracht seien. Ich schaute nur auf den Boden und habe den Reporter nicht einmal angesehen. Nach zwei Tagen kamen wir in ein anderes Quartier, in ein ganz desolates Gebäude. Es gab kein warmes Wasser, statt auf Matratzen lagen wir auf Sportmatten. Wir mußten uns mit unseren Pullovern und Jacken zudecken. Meine Cousine und ich hatten zwei Kinder bei uns, deren Mutter getötet worden war. Das Mädchen war drei, der Bub zwölf Jahre alt. Die Kinder haben genau begriffen, was vorging. Meine Cousine hat das Mädchen immer festgehalten, und wenn die Tschetniks am Abend kamen, haben die Kinder zu weinen begonnen. Manchmal haben sie dann gesagt: ”Laßt die mit dem Kind. Nehmt euch eine andere.” Einmal hat der Bruder seine Schwester gezwickt, damit sie weinen mußte. Die Kinder wollten uns schützen, vor allem meine Cousine, denn sie hat sehr viel für sie getan.

Dieses Lager war fürchterlich, wir hatten keine Ruhe, immer wieder holten sie uns, brachten uns in ein Haus neben dem Lager und vergewaltigten uns. Wenn wir uns geweigert oder gewehrt haben, haben sie uns geschlagen oder gedroht, uns umzubringen. Einmal wollte mir jemand eine Handgranate geben, er meinte: ”Damit kannst du dich in die Luft jagen, wenn es noch schlimmer wird.” Ich hab sie nicht genommen. Egal was passierte - ich wollte nicht sterben.

Eines Morgens, es war ungefähr vier Uhr, befahlen sie uns, in ein Auto zu steigen. Sie brachten uns in ein Dorf, zwanzig Kilometer außerhalb von Foca. Wir sollten zum Anführer einer als besonders brutal und grausam geltenden Tschetnik-Bande gebracht werden. Erste Station war ein Gasthaus, offensichtlich das Hauptquartier der Bande.

Der Raum war voll mit diesen betrunkenen Typen, auf den Tischen standen überall Bierflaschen und Essen lag herum. Sie zwangen uns, etwas zu essen, aber ich konnte einfach nicht, ich war so kaputt. Da kam einer und sagte zum Kommandanten: ”Die da ist sowieso schon so gut wie tot, soll ich mit ihr hinausgehen und sie erschießen?"

Wir wurden in ein Haus in der Nähe von diesem Gasthaus gebracht. Es gehörte einem Moslem, der über zwanzig Jahre in Deutschland gearbeitet hatte. Die Tschetniks haben es einfach genommen. Der Besitzer war schon mit seiner Familie geflüchtet, nur eine Tochter blieb zurück. Auch sie wurde vergewaltigt, konnte aber später entkommen. Ich hatte nie zuvor ein so schönes Haus gesehen, vom Dachboden bis zum Keller voll mit schönen Sachen. In diesem Haus blieben wir drei Monate. Zuerst waren wir neun, später acht Mädchen. Tagtäglich wurden wir gezwungen, mit diesen Typen zu schlafen, wir hatten keine andere Wahl. Daneben mußten wir für sie das Frühstück machen, ihnen die Wäsche waschen und natürlich das Haus sauber halten. Am Tag waren wir meistens allein im Haus, aber es gab keine Fluchtmöglichkeit. Außer uns gab es keine Moslems mehr in der Stadt, wir waren allein inmitten von lauter Serben. In dieser Zeit redeten wir viel miteinander, ich war die älteste von uns.

Eines Tages fanden nicht weit von unserem Haus entfernt große Kämpfe statt. Da wußten wir, daß unsere Leute (die bosnischen Soldaten) in der Nähe waren. Also zogen wir unsere Schuhe und Mäntel an und machten uns bereit zum Aufbruch. Wir wollten verschwinden, aber keiner wußte, wohin wir eigentlich gehen sollten. Neben unserem Haus war zwar ein Wald, aber wir hatten solche Angst, daß mich die Tschetniks dort erwischen und erschießen würden; also blieben wir.

Eine Achtzehnjährige und eine Vierzehnjährige waren für die zwei Kommandanten reserviert, der Rest mußte für alle anderen da sein. Die Jüngste von uns war zwölf, sie wurde direkt aus der Wohnung ihrer Mutter weggeholt und zu uns gebracht. Auch wenn es wirklich schlimm war, irgendwie hatte ich immer einen großen Optimismus. Er hat mich am Leben erhalten. Wenn wir allein waren, sagte ich oft zu den Mädchen, eigentlich waren es Kinder für mich: ”Paßt auf, wir müssen durchhalten. Wir kommen sicher da heraus. Wir gehen zusammen nach Österreich, dort ist mein Bruder, dort ist es schön.” Manchmal saßen wir zusammen, tranken Kaffee und hörten Radio Sarajevo, das hat uns Hoffnung gemacht. Oft hatten wir aber wieder so eine Wut, da nahmen wir alles, was uns unterkam und warfen es gegen die Wand.

Die meisten Männer kamen immer wieder, ich notierte mir ihre Namen und woher sie kamen. Ich erinnere mich nur an ganz wenige, die sich einigermaßen menschlich benahmen. Im ersten Lager war ein Tschetnik mit einem Freund aufgetaucht. Er stand in der Tür und sagte: ”Du, komm her, hab keine Angst – ich will nichts von dir!” Ich hatte tatsächlich große Angst, aber er hat mir eine Tafel Schokolade gegeben und mich wirklich nicht angerührt. Diesen Mann habe ich sieben Monate später in Foca wieder getroffen.

Nach drei Monaten in diesem Haus wurde ich mit drei anderen Mädchen, darunter meine Cousine, an eine weitere Tschetnik-Gruppe mit einem anderen Kommandanten übergeben. Es war bereits die dritte Gruppe, mit der wir zu tun hatten. Man brachte uns wieder in eine Wohnung in Foca zurück. Der Kommandant war übrigens derselbe, der mich nach meiner Verhaftung in unserem Dorf verhört hatte. Er nahm sich unsere Jüngste, die Zwölfjährige, und er hat sie in dieser Nacht vergewaltigt. Dieser Kommandant hatte selbst eine Tochter, die nicht viel älter war als das Mädchen. Aus scheinbar ”braven” Familienvätern wurden gemeine Bestien. Ich habe mich oft gefragt: ”Warum sind sie so wahnsinnig, was haben wir getan?” Ich verstehe nicht, wie jemand so entsetzlich böse sein kann. Einmal hab ich miterlebt, wie ein Tschetnik seinem ehemaligen muslimischen Schulkameraden mit dem Gewehrkolben das Gesicht zertrümmert hat. Oder wie sie damals im Wald die sieben Männer, die sowieso schon am Ende waren, niedergemetzelt haben – ich versteh das einfach nicht!

Auch in dieser Wohnung hatten wir viel zu tun. Jeden Tag mußte ich mindestens zwei große Brote backen. Wenn ich in der Küche nichts mehr zu tun hatte, setzte ich mich hin und häkelte Hausschuhe. Früher tat ich das nie, aber in dieser schlimmen Zeit häkelte ich ununterbrochen. Mein Gott, für alle Mädchen häkelte ich Hausschuhe - es ist verrückt, heute habe ich keine Ahnung mehr vom Häkeln.

Diese letzten vier Monate in Foca waren die schlimmsten. Oft wurden wir geschlagen, und wir wußten von einem Tag auf den anderen nicht, wo wir hinkamen. Von einer Bande wurden wir an eine andere ”verkauft”, von einem Ort zum anderen gebracht. Im Gesicht hatte ich eine schwere Verletzung, an der ich heute noch leide, einen Jochbeinbruch, den mir damals ein Tschetnik durch einen fürchterlichen Schlag zugefügt hat.

Diese Typen waren meistens betrunken, sie tranken den Schnaps aus Kanistern und schossen manchmal wild um sich. In den Wohnungen war es fürchterlich kalt, es gab keine Heizungen und die Fensterscheiben waren kaputt. Es war der reinste Terror: Sie ließen uns nicht schlafen und quälten uns. Das Essen war schrecklich, obwohl ich Hunger hatte, konnte ich nichts essen. Im nachhinein frage ich mich manchmal, wie ich das alles überleben konnte.

Einmal zwangen sie uns, nackt durch die Stadt zu gehen. Es war Ende Jänner und wir haben die Kleider vor unsere Körper gehalten, hinter uns die Tschetniks mit den Messern und der ständigen Drohung, uns umzubringen. Wir zitterten vor Angst und Kälte, aber die Leute auf der Straße haben gar nicht reagiert. Anscheinend war es ihnen recht, daß wir umgebracht werden. Irgendwie haben wir auch das überlebt.

Menschlichkeit mitten im Terror

In der Zwischenzeit hat mich der Mann, der mir damals die Schokolade geschenkt hat, gesucht und durch Zufall auch gefunden. Er meinte, er wolle mir helfen, aber ich glaubte es ihm einfach nicht. Ich konnte niemandem mehr glauben. Ich sagte zu ihm: ”Willst du mich vergewaltigen, dann tu es, aber laß mich in Ruhe.” Er tat es nicht, im Gegenteil, er wiederholte, er wolle mir helfen, hier herauszukommen. Aber erst müßte er jemanden finden, dem er vertrauen könne.

Später erfuhr ich, daß er damals begann, meine Flucht vorzubereiten. Da in ganz Foca kein Benzin mehr zu kriegen war, hat er beispielsweise seinen Bruder nach Montenegro geschickt. Er selbst, auch das habe ich erst später mitbekommen, saß vor dem Krieg wegen Einbruch und Diebstahl im Zentralgefängnis von Sarajevo. Aber der Krieg hat ihn verändert. Nachdem man sich als Tschetnik ohnehin alles nehmen konnte, hat ihn die Sache nicht mehr interessiert. Warum er mir aber tatsächlich geholfen hat, verstehe ich bis heute nicht so recht.

Inzwischen war ich nicht mehr mit den anderen Mädchen zusammen. Ein Tschetnik von der übelsten Sorte hatte mich gekauft und mit sich genommen. Die Wohnung, in der ich bis zu meiner Flucht lebte, hatte ursprünglich einer alten muslimischen Frau gehört, der blutverschmierte Teppich am Balkon erinnerte an ihren gewaltsamen Tod.

Es war Anfang März, ich erinnere mich noch genau, in der Wohnung war es eiskalt - es gab ja keinen elektrischen Strom und keine Heizung. Deshalb legte ich mich schon am Nachmittag ins Bett. Plötzlich kam der Tschetnik, der mich gekauft hatte, nach Hause, und ich mußte sofort aufstehen und mich schön machen. Er sagte etwas von drei Brüdern, die er mitgebracht hätte, mit denen wollte er noch ein bißchen sitzen und trinken. Zuerst hatte ich fürchterliche Angst: Mein Gott, was wird jetzt wieder passieren? Andererseits war mir damals schon alles ziemlich egal. Ich wog nur mehr vierzig Kilo, ich war krank, alles tat mir weh, und ich schleppte mich nur mit größter Mühe durch die Wohnung. Ich war am Ende.

Die Männer, die hereinkamen, waren freundlich. Erst jetzt erkannte ich den Mann wieder, der mir damals so eindringlich versprochen hatte, mich herauszuholen. Er sagte: ”Schau, ich hab dir jemanden mitgebracht.” Ich war sehr mißtrauisch, aber als ich mich zu den Männern wandte, erkannte ich plötzlich meinen serbischen Nachbarn aus meinem Heimatdorf. Ich war so fertig, ich hab die ganze Zeit geweint. Er aber meinte: ”Du sollst nicht weinen, ich helfe dir.” Wir sind die ganze Nacht zusammengesessen und haben miteinander gesprochen. Keiner von den dreien hat mich angerührt, nur mein ”Hausherr”, der entsetzlich betrunken war, hat immer wieder gelallt: ”Das ist mein Mädchen. Das ist mein Mädchen. Die habe ich gekauft.” Er wollte mich auch zwingen, auf dem Tisch für sie zu tanzen, aber einer der beiden anderen Männer hat gemeint: ”Sie tanzt heute sicher nicht mehr.” Am nächsten Morgen schenkte mir einer von ihnen Brot und Kekse und sagte: ”Mach dich bereit, wir kommen heute wieder und holen dich ab. Ich verspreche es dir.”

Ich konnte ihm einfach nicht glauben. Als sie gegangen waren, hab ich mich ins Bett gelegt und bin eingeschlafen.

Überraschende Befreiung

Gegen drei Uhr nachmittag wache ich auf und durchs Fenster sehe ich vor dem Haus viele Tschetniks stehen, darunter auch die Männer von der letzten Nacht. Sie sind in einen Streit verwickelt, irgend jemand hat die beiden offensichtlich verraten. Plötzlich stürmt ein Unbekannter ins Zimmer und bedroht mich mit einem Messer. Hinter ihm sagt einer meiner Befreier: ”Wenn du ihr weh tust, wirst du sehen, was mit dir passiert.” Der Fremde entgegnet: ”Sie darf nicht weg, sie gehört dem Tschetnik, der sie gekauft hat.“ Daraufhin der andere wieder: ”Sie ist kein Schwein, keine Kuh, kein Schaf, wo kann man sie kaufen?“ Und zu mir gewandt: „Du nimmst deine Sachen und gehst mit”. Wir gehen hinaus, draußen sind viele Leute, mein Begleiter fordert mich auf, schneller zu gehen. Die Situation ist sehr gefährlich. Eine serbische Frau schreit mich an, sie droht, mich eigenhändig umzubringen, aber wir springen ins Auto und fahren los.

Wir fuhren über Gacko nach Montenegro bis Titograd (heute: Podgorica). Mein serbischer Nachbar blieb bei mir, der andere, mein eigentlicher Befreier, wünschte mir alles Gute und viel Glück und verabschiedete sich in Titograd von uns. Ich solle ihm eine Flasche Schnaps schicken, die würde er trinken und an mich denken. Ich habe ihm die Flasche geschickt.

Von Titograd ging es quer durch Serbien nach Subotica in der Vojvodina, direkt an der ungarischen Grenze. Mit einem serbischen Begleiter an meiner Seite fühlte ich mich sicher. Von Subotica aus habe ich meinem Bruder ein Telegramm nach Österreich geschickt, und er kündigte ebenfalls telegrafisch seine Ankunft für den nächsten Morgen an. Wir fuhren mit dem Taxi zur ungarischen Grenze, ich wartete im Auto. Es war kalt, und wir hatten Hunger. Unser Geld war zu Ende. Wir hatten alles für die Bahnkarten, das Telegramm und das Taxi ausgegeben. Was machen wir, wenn mein Bruder nicht kommt? Er ist aber gekommen. Zuerst hab ich ihn gar nicht so richtig erkannt: Er war so dick. Ich sprang aus dem Auto und lief auf ihn zu. Ich habe so viel geweint. Er hat mein Telegramm an seinem Geburtstag bekommen.

Der Taxichauffeur half uns, über das Rote Kreuz von der Polizei einen sogenannten ”Flüchtlingsreisepaß” zu bekommen. In der Zwischenzeit organisierte und bezahlte mein Bruder, der wieder zu seinem Arbeitsplatz nach Österreich zurück mußte, in Ungarn einen Helfer, der mich bis zur österreichischen Grenze begleiten sollte. Aber als ich an die Grenze kam, wiesen mich die ungarischen Beamten wieder zurück. Sie verlangten ein Visum, das ich angeblich nur in der ungarischen Botschaft in Belgrad bekommen könnte. Einigermaßen verzweifelt stand ich jetzt allein auf dieser Grenzstation und wußte nicht, was ich machen sollte. Da erinnerte ich mich an die Telefonnummer, die mir der Taxifahrer – übrigens ein Serbe - mit der Bemerkung gegeben hatte, wenn ich Schwierigkeiten hätte, könnte ich ihn ruhig anrufen. Er gab mir die Adresse seiner Schwiegermutter und mit dem Geld, das mir mein Bruder zurückgelassen hatte, konnte ich dort bleiben. Sie war eine sehr nette Frau, die mir bei der Beschaffung der Reisedokumente behilflich war. Nach über drei Wochen war es dann soweit: Ich bekam einen jugoslawischen Reisepaß.

Ich fuhr mit dem Taxi zur Grenze, konnte sie ungehindert passieren und traf im ersten ungarischen Restaurant nach der Grenze meinen Bruder. Er meinte, er habe sich bei der Caritas erkundigt, die Einreise nach Österreich sei kein Problem. Als wir aber am Grenzübergang Nickelsdorf ankamen, durfte ich wieder nicht durch. Die Grenzen waren dicht. Da hatte mein Bruder die Idee, es bei einem anderen Grenzübergang zu probieren. Also fuhren wir über die Slowakei und Tschechien nach Wullowitz. Wie durch ein Wunder konnten wir von dort ungehindert nach Österreich einreisen.

Wir kamen nach Steyr. Dort traf ich, nach fast einem Jahr, meinen Vater wieder. Das war sehr schwer. Erst jetzt wurde mir langsam wieder bewußt, was in der Zwischenzeit alles passiert war.

Neue Hoffnung– neue Enttäuschung

Ich hatte einen richtigen Zusammenbruch. Die anderen unterhielten sich, redeten und lachten, aber ich war völlig fertig. Es war wie ein Film, der an mir vorbeizog, ich bekam überhaupt nichts mit, ich starrte nur vor mich hin. Dann weinte ich wieder stundenlang. Wenn ich ein Auto von der Straße her hörte, bekam ich fürchterliche Angst und wollte schreien. Einmal wurde ich ohnmächtig und fiel um. Mein Bruder glaubte damals, ich sei tot. Es war sicher die Erschöpfung. Niemand konnte mir helfen. Dazu kam, daß ich ja illegal im Land war, unangemeldet, ohne Arbeit, ohne Geld. Gemeinsam mit meinem Vater und meiner Cousine wohnte ich bei meinem Bruder und seiner Familie, wir teilten uns zu fünft einen kleinen Raum. Es gab kein Wasser und später dann auch keinen Strom mehr, weil uns der Besitzer hinaushaben wollte. Mein Vater und meine Cousine bekamen 1500 Schilling Flüchtlingsunterstützung, davon lebten wir und bezahlten das Zimmer.

Eigentlich wollte ich wieder zurück nach Bosnien. Alles war fremd, es war nicht meine Stadt, nicht meine Leute, ich verstand die Sprache nicht, welchen Sinn hatte es, dazubleiben? Mir war alles egal, ich wollte zurück zu meiner Mama, zu meinem Bruder. Ich konnte nicht verstehen, daß sie tot waren.

Heute ist es anders. Ich will nicht mehr daran denken, ich will leben. Ich habe acht Monate lang geweint, ich kann nicht mehr.

Zufällig fand ich damals eine Annonce in einer bosnischen Zeitung. Ein Mädchen, das ich aus der schlimmsten Zeit in Bosnien kannte, war auf der Suche nach irgendwelchen Angehörigen. Ich habe sie in Deutschland angerufen, wir haben lange miteinander gesprochen. Sie erzählte mir von einer kleinen privaten Organisation, die den Mädchen aus den serbischen Zwangsbordellen helfen wollte. Ich entschloß mich, mit dieser Organisation Kontakt aufzunehmen und nach Deutschland zu gehen. Ich glaubte, daß die mir helfen könnten, ich dachte an eine Wohnung, eine Arbeit und an ein normales Leben. Es ging alles ganz schnell: Das Visum war kein Problem, der Mann aus Deutschland kam und brachte mich ins Saarland, in die Nähe der französischen Grenze.

Aber Deutschland war für mich eine große Enttäuschung. Ich lebte zusammen mit einer anderen bosnischen Frau, die zwei Kinder hatte, in einer Wohnung. Täglich mußte ich im Büro dieser Hilfsorganisation Adressen schreiben, für Briefe, die ich nicht verstand und die offensichtlich dazu verschickt wurden, um Geld für die verschiedenen Aktivitäten der Organisation zu bekommen. Außerdem verlangte man von mir, Interviews zu geben, für Zeitungen, fürs Radio, fürs Fernsehen. Überall sollte ich meine schreckliche Geschichte erzählen. Der Sinn dieser Sache bestand darin, durch diese Auftritte möglichst viele Spenden aufzutreiben.

Ich habe mich zum zweiten Mal mißbraucht gefühlt. Die einzige, die mich verstand, war meine bosnische Mitbewohnerin. Als ich zu meinem Chef sagte, daß ich meine Geschichte nicht mehr überall erzählen wollte, beschimpfte er mich nur und sagte: ”Geh doch wieder zurück, woher du gekommen bist”. Ich habe diesen Mann gehaßt.

Als die Frau, mit der ich zusammenwohnte, wegging, um in Bosnien Frauen und Kindern aus den Lagern helfen, habe ich begonnen, ernsthaft Deutsch zu lernen. Ich besuchte einen Deutschkurs. Ich wollte nicht von irgendwelchen Dolmetschern abhängig sein, ich habe ihnen nicht mehr vertraut. Langsam nahm ich mein Leben immer mehr selbst in die Hand.

So bin ich nach Berlin gefahren und habe meine Tante, meine Cousine und andere Verwandte besucht. Meine Cousine war auch im Lager, und genau derselbe Tschetnik, der mir geholfen hat, hat auch sie befreit. Er hat auch eine andere Cousine gerettet und außerdem meiner Tante und anderen Bekannten die Flucht nach Montenegro ermöglicht. Viele Mädchen, die damals nach Montenegro kamen, waren schwanger. Dieses Schicksal ist mir Gott sei Dank erspart geblieben.

Einmal kam ein Reporter von der BBC,  aber ich wollte nicht mehr. Alle sagten: ”Bitte, bitte hilf uns, tu uns den Gefallen” ”Wieso soll ich? Ich habe überall gesprochen. Was habe ich dafür bekommen?” Ich war verzweifelt, es war Herbst, und ich besaß gar nichts, keine Schuhe, keinen Pullover, keine Hose. Ich war nur einsam. 

 

Die Angst ist geblieben

Ende Oktober 1993 kam ich wieder nach Steyr. Ich ging gleich zur Polizei, um mich anzumelden. Die meinten aber, ich müßte weg. Da sagte ich: ”Meine Familie ist da. Ich habe niemanden sonst, wohin soll ich gehen?” Das hat sie nicht interessiert.

Gott sei Dank hat mir ein Bekannter geholfen und mich bei ihm in Niederösterreich angemeldet. Gewohnt habe ich aber bei meinem Vater und meiner Cousine in einem Zimmer in Steyr.

Meine Cousine hat dann bald geheiratet. Mein Vater wollte nach dem Krieg unbedingt wieder nach Bosnien zurück, ich habe ihn aber nicht weggelassen. Der Krieg und vor allem der Tod meiner Mutter und meines Bruders haben ihn verändert. Er hat zu trinken aufgehört, war oft sehr traurig und hat viel geweint. Ich traute ihm nicht zu, daß er in diesem Land allein zurechtkommen würde. Hier in Österreich ist alles ganz anders: Niemand will Papa und Mama bei sich haben. Bei uns ist die Familie sehr wichtig.

Ich habe schon gespürt, daß Papa in Steyr nie glücklich werden könnte, und so ist er schließlich doch zurückgegangen. Ich habe alles mit ihm geteilt. Für das wenige Geld, das ich hier bekam, habe ich ihm Kleider und andere Dinge geschickt. Ich wollte ihm helfen und habe alles getan, damit er ein wenig glücklich war. Nach einiger Zeit wollte er sogar wieder heiraten und begann, in Sarajevo eine kleine Wohnung herzurichten. Doch im vergangenen Jahr ist er plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. In Wirklichkeit hat er seine Lebensfreude nie wieder zurückgewonnen.

Jetzt, nachdem auch Papa tot ist, habe ich niemanden mehr in Bosnien. Ich will nicht mehr zurück und nach all dem, was passiert ist, kann ich nicht mehr zurück. Ich möchte hier in Österreich normal arbeiten und leben, aber ich habe immer noch Angst. Angst vor der Polizei, vor den Behörden, Angst vor den Männern. Nach dem, was mir passiert ist, habe ich kein Vertrauen mehr zu Männern. Ich habe die Männer so gehaßt. Einmal war ich mit meinem Bruder und dem Mann meiner Schwester in einem Gasthaus. Es gab Musik, und da kam einer, der wollte mit mir sprechen. Ich dachte sofort, daß er mich schlagen würde, und ich sagte zu meinem Bruder: ”Bitte, bring ihn weg. Ich will nicht mit ihm sprechen.” Ich konnte einfach nicht anders.

Vergangenes Jahr, nach dem Tod meines Vaters, bin ich zur Caritas gegangen und habe ihnen meine ganze Geschichte erzählt. Die haben sich sehr um mich bemüht und mir dann wirklich geholfen. Seither habe ich eine schöne Wohnung und bin ein anerkannter De-facto–Flüchtling.

Mittlerweile kenne ich viele Leute hier in Steyr, auch Österreicher. Viele sind sehr freundlich und haben mir geholfen. Mit den Behörden habe ich keine so guten Erfahrungen. Egal, wo ich hinkam, überall hieß es: ”Das geht nicht.” Als ich beispielsweise am Arbeitsamt die Papiere über meine Aussagen vor dem ”Haager Tribunal”  zeigte, meinte man, das interessiere sie nicht.

Trotzdem gefällt es mir hier. Steyr ist nach Foca die zweite Stadt in meinem Leben. Auch hier gibt es zwei Flüsse, die zusammenfließen, auch hier gibt es Berge. Meine Wurzeln bleiben aber in Bosnien. Seit kurzem habe ich wieder einen Freund, er kommt aus Foca. Ich könnte mir nicht vorstellen, daß er woanders herkäme.

 

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Das Interview mit Sada Barlov wurde im April und Mai 1998 in Steyr geführt. Name und persönliche Daten wurden geändert.

 

   
   
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